5 Jahre Corona – eine Abrechnung
Eigenschutz vs. Fremdschutz – die Pandemie der Ungeimpften?
Wenn man während der Pandemie mit gut informierten Impfskeptikern diskutierte und das Argument einbrachte, dass es ja auch andere Szenarien gibt, in denen einer Person zum Wohle der Allgemeinheit etwas abverlangt wird, z.B. im Zusammenhang mit der Masern-Impfpflicht, dann bekam man oft zu hören, dass diese beiden Fälle nicht vergleichbar seien. Anders als bei den Masern sei bei Corona durch die vorhandenen Vakzine keine sterile Immunität zu erreichen; somit sei die Coronaimpfung nicht unter dem Gesichtspunkt Fremdschutz zu diskutieren, sondern es handele sich um eine Maßnahme des individuellen, und somit zwingend der Freiwilligkeit unterliegenden, Eigenschutzes.
Die vorgetragene Argumentationslinie ist nicht ganz von der Hand zu weisen, und sie klingt – so formuliert – durchaus schlüssig. Und doch wird sie der Komplexität der Thematik nicht gerecht.
Es scheint, dass sich Homo sapiens im Digitalen besonders wohl fühlt: ja oder nein; schwarz oder weiß; null oder eins.
Einer großen Zahl von Menschen fällt es offenbar schwer, sich auf den Gedanken einzulassen, dass es zwischen den beiden Extrem-Kategorien sterile Immunität und reiner Eigenschutz Raum für ein breites Kontinuum gibt, und dass die absolute Wahrheit eben nicht hier oder dort, sondern irgendwo im dazwischen liegenden Graubereich liegt.
Folgt man der Wissenschaft, dann kann kein Zweifel daran bestehen, dass – jedenfalls für die während der ersten beiden Corona-Jahre in Mitteleuropa dominierenden Virusvarianten (Alpha, Delta) ein deutlicher Fremdschutz bestand. Dieser Fremdschutz setzte sich aus zwei einander verstärkenden Komponenten zusammen:
Erstens: Es ist gut dokumentiert, dass die Wahrscheinlichkeit einer Infektion in den ersten zwei bis vier Monaten nach der Impfung signifikant geringer war als ohne Impfung. Dies liegt in erster Linie an der früh einsetzenden und mehrere Monate anhaltenden Schleimhaut-Immunität, vermittelt durch Antikörper der Klasse IgA.
Zweitens: Die Viruslast im Rachen war bei Menschen, die einen Impfdurchbruch erlitten (also Personen, die trotz vorangegangener Impfung an Corona erkrankten), im Mittel um ein bis zwei Größenordnungen geringer als bei ungeimpften Erkrankten.
Beide Effekte in Kombination hatten zur Folge, dass die Ansteckungswahrscheinlichkeit beim Kontakt zwischen zwei geimpften Personen fünf- bis zehnmal geringer gewesen sein dürfte als bei einem vergleichbaren Kontakt zweier Ungeimpfter.
Bei dieser Faktenlage ist es verständlich, dass sich Ärzte, Wissenschaftler und Politiker zunehmend frustriert darüber zeigten, dass sich eine erhebliche Zahl von Personen trotz ausreichender Verfügbarkeit der Vakzine nicht zu einer Impfung durchringen konnte. Der berechtigte Unmut darüber entlud sich in einigen pointierten Einlassungen öffentlicher Personen. Diese Statements müssen im Nachhinein kritisch gesehen werden, da sie nicht geeignet waren, bei der Gruppe der Impfskeptiker ein Umdenken zu bewirken. Im Gegenteil: man fühlte sich angegriffen, provoziert und missverstanden und vergrub sich nur noch tiefer in die eigenen rhetorischen Schützengräben. Zu den Äußerungen, die in diesem Sinne kontraproduktiv waren, gehört die Aussage von Frank Ulrich Montgomery, ehemaliger Präsident der Bundesärztekammer, der im November 2021 von einer Tyrannei der Ungeimpften sprach, die über die zwei Drittel der Geimpften bestimmen und uns diese ganzen Maßnahmen aufoktroyieren.
CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn sprach mehrfach davon, dass es sich um eine Pandemie der Ungeimpften handele, ein Ausdruck, der auch von anderen Entscheidungsträgern, z. B. vom SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach, mehrfach wiederholt wurde.
Solche Äußerungen sind Belege für die aufgeregte Verzweiflung, von der weite Teile der Öffentlichkeit Ende 2021 ergriffen waren, angesichts einer stockenden Impfkampagne, und aufgescheucht durch beunruhigende Nachrichten über eine neue, südafrikanische Virus-Variante (später: Omikron) mit dramatisch erhöhter Infektiosität, die nach ersten Meldungen vor allem für Kinder gefährlich sein sollte.
Wie wir heute wissen, kam es glücklicherweise anders. Omikron war nicht die befürchtete Killer-Variante, sondern erwies sich vielmehr als segensreich für den Fortgang der Pandemie. Die hoch ansteckende Omikron-Klade führte zu einer raschen Durchseuchung der Bevölkerung, inklusive des ungeimpften Teils, aber die Hospitalisierungs- und Todesraten stiegen nicht im gleichen Maße an, weil Omikron weniger starke Symptome verursacht als die Vorgänger-Varianten. Alexander Kekulé hatte in seinem MDR-Podcast schon mehrere Monate zuvor eine hypothetische Variante mit einer derartigen Kombination von Eigenschaften ins Spiel gebracht und sie als mögliche »Messias-Variante« bezeichnet, da sie in der Lage wäre, uns aus der pandemischen Starre zu befreien und den Übergang von der Pandemie zur Endemie ohne Überlastung des Gesundheitssystems zu katalysieren.
Seit dem Siegeszug von Omikron sind Impfdurchbrüche sehr viel häufiger geworden. Das von Impfbefürwortern oft vorgebrachte Argument: Impfung schützt auch Andere, das zu Zeiten der früheren Virusvarianten zweifellos zutreffend war, verlor in der Folge immer mehr an Bedeutung. Doch jeder, der diese Erkenntnis zum Anlass nimmt, die gesamte Rationalität der Impfkampagne rückwirkend in Frage zu stellen, der schüttet das Kind mit dem Bade aus und muss sich unterstellen lassen, kein Interesse an einer faktenbasierten Diskussion zu haben.
Enttäuschend ist in diesem Zusammenhang, dass sich manche Politiker offensichtlich entschieden haben, um des lieben Friedens willen einen Kotau vor der versammelten Wutbürgerschaft zu machen und scheinbar geläutert einzuräumen, dass es von Anfang an nicht gerechtfertigt gewesen sei, Maßnahmen wie 2G einzuführen, mit denen zwischen Geimpften und Ungeimpften unterschieden wurde.
So verständlich diese Aussage für einen Politiker sein mag, der sich um den Zusammenhalt in der Gesellschaft sorgt, und der seine Wiederwahl bedroht sieht, so sauer muss sie denjenigen aufstoßen, die sich – auch und gerade in schwierigen Zeiten – um ausgewogene Debatten bemüht haben.
Schön-Wetter-Helden gibt’s schon genug im Land.