Resonanzkatastrophe

Resonanzkatastrophe

Überall auf dem Planeten ist ein Rechtsruck zu verspüren. Ein multimodaler Rechtsruck, der sich vielgestaltig zeigt: kulturell, medial, politisch, legislativ.

Weshalb diese Regression? Die Zukunft schien doch nach Beendigung des Kalten Kriegs ausgemacht. Das Ende der Geschichte wurde proklamiert: die gesellschaftspolitische Liberalität würde sich immer mehr durchsetzen; die letzten Zweifler würden gewiss schon bald einsehen, dass eine Gesellschaft ohne Diskriminierung – geprägt von Achtsamkeit und Toleranz; getrieben vom Willen, auch noch die letzten Bastionen systematischer Ungerechtigkeiten einzunehmen; vereint in der Erkenntnis, dass Sprache als Vorhut realer Gewalt zu betrachten sei und folglich einzuhegen und zu zähmen sei wie ein wildes Tier – dass eine solche Gesellschaft für alle das Beste sei, ein Schritt auf dem Weg hin zu einer gerechteren Welt.

Doch leider wurde die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Größere Teile der Bevölkerung erwiesen sich als unerwartet störrisch. Sie entzogen sich der verordneten Modernisierung und lehnten reflexhaft ab, was man ihnen als vermeintlich progressiv vor die Nase setzte.

Der Motor der guten Absichten begann zu stottern.

Fehleinschätzung

Denjenigen, die sich verweigerten, wurde schon bald bei geschäftstüchtigen Youtubern und TikTokern Asyl gewährt. Dort fand man Gleichgesinnte und richtete sich häuslich ein. Die so entstandenen Echokammern sind längst mit einer Kollektion ausgesuchter Narrative und Ressentiments möbliert, zur Außenwelt hermetisch abgeriegelt mit Jägerzäunen aus Teflon.

Wie konnte es so weit kommen?

Der restaurative Ausschlag der gesellschaftspolitischen Kompassnadel vollzog sich anfangs schleichend; er wurde von den Progressiven verbissen bekämpft, zum Teil aber auch nur milde belächelt als Schrulligkeit der ewig gestrigen Boomer, welche sich schon auswachsen würde, spätestens dann, wenn sich die Alten nach und nach mit der Schnabeltasse in der Hand in die Pflegeheime verabschiedet haben würden.

Man kann sagen, dass die Beharrungskräfte der konservativen Mitte grob unterschätzt wurden. Die in gebildeten Kreisen weithin propagierten Thesen der (linken) Identitätspolitik erwiesen sich zudem als ausgesprochen leicht verhetzbar. Ein Teil der etablierten Medien – im deutschsprachigen Raum tat sich in diesem Zusammenhang vor allem die Springer-Presse unrühmlich hervor – sog in Zeiten rückläufiger Auflagen ihren Lebenssaft aus zahllosen Kampagnen über die jüngsten Auswüchse eines scheinbar völlig außer Rand und Band geratenen links-grün versifften Wokistans.

Nicht wenige gutwillige Bürger, die dem Idealbild einer gleichberechtigten, diskriminierungsfreien Gesellschaft prinzipiell viel Positives abgewinnen konnten, entwickelten im Laufe der Zeit eine gewisse Skepsis gegenüber den zahlreichen Tabus, Empfindlichkeiten und Triggerpunkten, die allerorts aus dem Boden sprossen. Besonders sensibel – ja geradezu allergisch – reagierten sie auf die diversen grammatikalischen Neuerungen, z. B. neue Pronomina, Binnen-Is und Klicklaute. Wohl nicht ganz zu Unrecht, denn der Verdacht liegt nahe, dass so mancher Protagonist, der diese Kakophonie aus Neologismen allzu beflissen in den eigenen Sprachgebrauch übernahm, dies nicht ausschließlich deshalb tat, weil es ihm um die Sache ging, sondern auch, um die Zugehörigkeit zur eigenen Peer Group zu demonstrieren – im Sinne eines exkludierenden Virtue Signallings, das die Abwertung Außenstehender als Kollateralschaden billigend in Kauf nimmt.



Die unvermeidliche Folge war, dass viele Menschen, die sich von den ungewohnten Tönen überfordert fühlten, irgendwann auf Fundamentalopposition umschalteten und sich zurückzogen. Sie rührten den Mörtel an und begannen erste Ziegelsteine ihrer mentalen Trutzburg gegen das woke Establishment zu setzen.

Gerne kann ich in diesem Zusammenhang eine kleine Anekdote beisteuern (auch wenn mir zur erwähnten Boomer-Generation einige Jährchen fehlen): So erinnere ich mich an eine Situation in der Sendung Anne Will vom 24.05.2020. Unter anderem war dort der Präsident des Bundes der Steuerzahler e. V. zu Gast. Frau Will begrüßte ihn mit den folgenden Worten:

»Der Präsident des Bundes der Steuerzahler:innen Reiner Holznagel – herzlich willkommen! Da staunen Sie, ne, dass ich Steuerzahler:innen sage; ich weiß gar nicht, ob Sie den Verband so nennen schon inzwischen?«

Natürlich wusste sie ganz genau, dass nicht…



Ich fand diese Form der selbstgefälligen Übergriffigkeit frappierend. Einen eingetragenen Verein, der nun einmal so heißt wie er heißt, aus politischer Korrektheit kurzerhand umzubenennen, und dessen Präsidenten öffentlich abzuwatschen, indem man ihn im Rahmen der Begrüßungsformel zu einem aus der Zeit gefallenen Dinosaurier erklärt, der den Weg zur Erleuchtung noch nicht gefunden hat – diese Hybris war mir derart zuwider, dass ich beschloss, die Sendung bis auf Weiteres zu boykottieren. Zweifellos ging es vielen Zuschauern meiner Generation ähnlich, und mir wurde bewusst, dass ich gerade Zeuge geworden war, wie der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk offenen Auges die Entfremdung wesentlicher Teile seines Publikums riskierte, ja diese gar aktiv zu befördern schien.

Metamorphose

Die systematische Vergrämung der gemäßigt Konservativen im vergangenen Jahrzehnt wird nun zum Problem für alle Teile der Gesellschaft. Denn es ist exakt dieser Bevölkerungsteil, den wir eigentlich als Verbündete für die gute Sache hätten gewinnen können, ja müssen. Konservativ zu sein bedeutet ja nicht, jede Veränderung grundsätzlich abzulehnen oder gänzlich verhindern zu wollen. Im Gegenteil: die nachhaltigsten Veränderungen erreicht man im produktiven Wechselspiel zwischen jenen, die mutig voranschreiten, und den Hütern bewährter Strukturen, die zunächst zögern, sich aber mittels einer Kombination aus wertschätzender Geduld und guten Argumenten dafür gewinnen lassen, den neu eingeschlagenen Weg mitzugehen.

Erstaunlich ist: Die sich herausbildende Körperlichkeit des Schmetterlings passt haargenau in die Form der Puppenhülle, obwohl diese noch einen Teil des Alten darstellt. Wenn die körperlichen Formen ausgereift sind, drückt der Schmetterling die Hülle der Puppe auf und arbeitet sich unter großen Mühen aus der alten Form hinaus in die Freiheit. […] Interessant an dem Prozess ist auch, dass der Schmetterling die Kraft aus sich selbst heraus aufbringen muss, die alten Formen zu durchbrechen. Wenn man ihm diese Mühe abnimmt und die Puppenhülle manuell erweitert, so kann er anschließend nicht fliegen. Er braucht den Widerstand der alten Form, um sich gesund und kräftig entwickeln zu können, da er an diesem Widerstand erst die Kraft bildet, die er anschließend zum Fliegen braucht. [Quelle]


Auch wenn ich mich über die beschriebene Talkshow-Szene ärgerte, so war ich doch in der Lage zur Reflexion: mit etwas Abstand begriff ich meine Vorbehalte als das, was sie waren: nämlich eine Form von letztlich irrationaler Widerspenstigkeit, ausgelöst durch eine als übergriffig empfundene Attacke auf meine Autonomie.

Die Rationalisierung von Gefühlen ist anstrengend. Ein großer Teil des älteren oder konservativeren Publikums ist – womöglich aus guten Gründen – weder willens noch in der Lage, die dafür nötige Energie aufzubringen. Statt dessen stimmen die Leute mit den Füßen ab (bzw. mit der Fernbedienung): Millionen Deutsche kehrten in den vergangenen Jahren dem ÖRR den Rücken.

Mit der Erosion des Vertrauens in die vierte Gewalt bricht eine tragende Säule des Fundaments weg, das unsere liberale Demokratie stabilisiert. Das Mauerwerk bekommt Risse und bereitet den Boden für Infiltrationen aller Art.

Nicht zuletzt in Russland registrierte man die kulturellen Sollbruchstellen des Westens früh, dank des feinen Sensoriums einer FSB-gestählten Nomenklatura, die mit der Erfahrung aus zahllosen konspirativen Aktionen geübt darin ist, noch die kleinsten Schwächen ihrer Zielpersonen zu identifizieren, um sie als Hebel zu nutzen. Und so machten sich Heerscharen von Desinformationsprofis aus St. Petersburg oder Moskau on- und offline daran, den Keil des Misstrauens tiefer in die westlichen Gesellschaften zu treiben, um diese zu spalten. Eine moderne Ausprägung des bewährten Prinzips divide et impera – man muss anerkennen, sie waren und sie sind sehr erfolgreich darin.

 

Ausschläge

»Politics is downstream from culture«, also: »die Politik folgt der Kultur«, lautet ein Zitat, das Andrew Breitbart zugeschrieben wird, dem Gründer des rechten US Hetz- und Desinformations-Portals Breitbart News.

Und genau so kam es: Parteien, die rechte Narrative vertraten, bekamen weltweit Auftrieb. Alles, was auch nur im entferntesten Sinn mit dem Begriff Wokeness assoziierbar war – Diversifizierung, Gleichberechtigung, Minderheitenschutz und Inklusion (im Amerikanischen steht hierfür das Akronym DEI: Diversity, Equity, Inclusion) – geriet unter heftigen Beschuss, wurde verächtlich gemacht und für schwach, gerne auch für unmännlich, erklärt. Vorläufiger Höhepunkt der Anti-Wokeness Bewegung war die Wiederwahl von Donald Trump zum 47. Präsidenten der USA. Die Ära der Wokeness sei ein für alle Mal vorbei, sagte Trump am 4. März bei seiner Rede vor dem US-Kongress.

In einem Akt der ultimativen Perversion erklärte Trumps Rasputin Elon Musk zuletzt gar die Empathie zur schlimmsten Schwäche des Menschen. Darauf angesprochen, meinte Ulf Poschardt, Chefredakteur der WELT und Lieblings-Dandy der Libertären eilfertig, er finde jeden Gedanken Musks prinzipiell interessant und nachdenkenswert – so auch diesen…


Optimisten mögen beschwichtigend einwenden, es sei seit jeher ein Charakteristikum des Fortschritts gewesen, dass er sich in Pendelbewegungen aus der Ursuppe der Ignoranz herausschäle. Etwaige Übertreibungen gebieren zuverlässig Gegenkräfte, deren Impulse das Pendel erneut über das Ziel hinausschießen lässt, mit reduzierter Amplitude zwar, jedoch ausreichend, um den nächsten Zyklus gegenläufiger Tendenz einzuleiten. Am Ende eines iterativen Prozesses wird schließlich eine höhere Entwicklungsstufe erreicht sein, ein konsensual stabiliertes Plateau, das als Startpunkt für die nächste Runde gesellschaftspolitischer Aushandlungsprozesse genutzt werden kann.

Was aber, wenn das Modell des Pendels die Gegenwart nur unzureichend beschreibt? Wenn zudem das Axiom des Energieerhaltungssatzes in die Irre führt, weil eine unbekannte, dunkle Energie dem Spiel der Kräfte ihr eigenes Momentum hinzufügt, so dass das Pendel nicht mit abnehmender Amplitude schwingt, sondern im Gegenteil: dass es zu einer überschießenden Reaktion kommt, zu einem disruptiven Akt, welcher das System über seinen inneren Kipp-Punkt hinaus zum Kollabieren bringt? Was, wenn wir Zeugen einer gesellschaftspolitischen Resonanzkatastrophe sind, die sich vor unser aller Augen abspielt?

Wo Taubenschach gespielt wird, macht es keinen Unterschied, ob man König, Läufer oder Bauer ist. Wir wollen hoffen, dass es noch nicht zu spät ist, und sich die Wähler rechtzeitig auf ihre Macht besinnen, statt sich weiterhin den Launen der Kettensägen-Schwinger auszuliefern. Nichts weniger als das Schicksal der freiheitlich-demokratischen Rechtsstaaten westlicher Prägung steht auf dem Spiel.

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