Prolog: Ein Essay
Zwei Sportler, knapp 3 Meter voneinander entfernt, getrennt durch einen grünen Holztisch; in der Mitte ein Netz, gespannt in einer millimetergenau abgemessenen Höhe von 15,25 cm. Die beiden kämpfen konzentriert und verbissen um jeden Punkt; ein ungleiches Duell, und gerade deshalb so faszinierend.
Die Kontrahenten könnten unterschiedlicher nicht sein: der eine, 81 Jahre alt, Abwehrstratege mit weißem Stirnband, gut 100 Kilo Kampfgewicht, das rechte Knie bandagiert, lange Außennoppen auf der Rückhand, spielt stoisch und zäh Ball um Ball zurück. Der andere, 18 Jahre jung, mit Bürstenhaarschnitt, reiner Angriffsspieler, kompromisslos auf der Vorhandseite, ein wenig verhaltener mit seiner Rückhand; es ist seine erste Saison in der Erwachsenenliga. Er gilt als talentiert, in den Jugendligen musste er kaum einen Gegner fürchten.
Der erste Satz ist schnell vorbei: 3:11 – chancenlos. Der Junior reagiert auf sein ungewohnt fehlerhaftes Spiel mit einer Mischung aus Frustration und Verwunderung. Erst nach und nach dämmert es ihm, dass er den alten Mann wohl unterschätzt hat. Beim Seitenwechsel gute Ratschläge vom Teamkameraden: »Lass es langsamer angehen«, »einmal ziehen, dann wieder schupfen – immer abwechselnd«, »der bringt mit seinen Noppen alles zurück, spiel ihn auf der Vorhand an«, »schneller Aufschlag, dann Topspin«.
Einmal tief durchatmen, ein letzter Schluck aus der Trinkflasche, und zurück an den Tisch.
Diese Szene – so oder so ähnlich hundertfach erlebt in den Sporthallen des Landes – beschreibt anschaulich, was den Tischtennis-Sport so besonders macht: kaum eine andere Ballsportart kann man sein ganzes Leben lang – also tatsächlich von 8 bis 80 Jahren – ausüben. Der Variantenreichtum bezüglich Belagarten und Spielweisen ist groß, und nachlassende Beweglichkeit wird durch zunehmende Erfahrung und besseres Spielverständnis oft mehr als ausgeglichen. Somit ist Tischtennis eine Sportart, bei der sich Alt und Jung auf Augenhöhe begegnen können.
Die BRD der 1980er-Jahre
Ich war ein schüchternes Kind. Die Erwachsenenwelt war aus meiner Perspektive eine kaum zu dechiffrierende Mischung aus drei Teilgruppen: erstens einem wohlwollenden familiären Nahbereich (Eltern, Onkel, Tanten), zweitens der Spezies Lehrer, von denen ich lange nicht wusste, dass diese auch ein eigenständiges Privatleben außerhalb des Schulgebäudes hatten (ich erschrak regelrecht, wenn ich einem Lehrer oder eine Lehrerin nach Schulschluss zufällig, etwa im Einkaufszentrum, begegnete); und zuletzt die große Masse der Leute: griesgrämige Bauarbeiter, geschwätzige Bäckereiverkäuferinnen, graue Anzugsträger – jedenfalls keine Menschen, so wie ich es war oder je sein wollte.
Die meisten meiner männlichen Klassenkameraden spielten Fußball. Für die Mädchen gab es bei uns auf dem Land dagegen kaum sportliche Angebote. Jedenfalls sind mir keine solchen bekannt. Mir selbst ging es auf dem Fußballplatz immer viel zu rau zu. Es fehlten mir die nötige körperliche Robustheit sowie die Bereitschaft, mich für einen späten Ausgleichstreffer so richtig in den Matsch zu werfen. Außerdem war ich völlig untalentiert.
Und so war es Mitte der 80er-Jahre ein echter Glücksfall, dass ich Tischtennis für mich entdeckte. Genauer: dass ich für diesen Sport entdeckt wurde. Denn hätte nicht zufällig ein Spieler der Tischtennisabteilung eines benachbarten Vereins beobachtet, wie ich mit meinem damaligen besten Freund im Innenhof seines Elternhauses Ping-Pong* spielte, und hätte er uns nicht zu einem Schnuppertraining eingeladen, hätte ich wohl kaum den Schneid gehabt, mich dort eigenständig anzumelden.
* Ich verwende hier ausnahmsweise, und auch nur dieses eine Mal – versprochen! – diesen unter Tischtennis-Spielern verhassten Begriff, weil das, was wir damals auf dem abschüssigen Garagenvorplatz bei Wind und Wetter spielten, ganze Nachmittage lang, oft bis es dunkel wurde und wir den Ball nur noch erahnen konnten, wohl in der Tat noch recht weit entfernt gewesen ist von der Sportart Tischtennis, wie sie im regulären Trainingsbetrieb in der Turnhalle durchgeführt wird.
Jedenfalls gingen wir hin, und ich fühlte mich sofort wohl. Nach einigen Wochen stellte ich fest, dass man mit den Leuten teilweise sogar reden konnte; dass es einige von ihnen offenbar gut mit mir meinten und mich unterstützen wollten. Man gab mir Spiel-Raum, und ich begann ihn auszufüllen.
Die Menschen, die ich in diesem Verein (idyllisch gelegen in einem Kurort im Passauer Land, nahe der österreichischen Grenze) kennen lernte, haben mein Erwachsenenbild, und indirekt mich selbst, stark geprägt.
Da war der immer freundliche Appartmenthausbesitzer mit verwegenem Schnauzbart und Vokuhila-Frisur; er lebte mit Frau und Kind von seinen Mieteinnahmen und ging ansonsten keiner geregelten Arbeit nach. Ein Schicksal im Übrigen, das er mit nicht wenigen Bewohnern der Gemeinde teilte. In der einst bettelarmen, kleinbäuerlich geprägten Region wurde 1938 von den Nazis nach Öl gebohrt, doch statt des schwarzen Goldes wurde nur heißes, schwefelhaltiges Wasser gefunden. Was zu Kriegszeiten eine Enttäuschung war, stellte sich schon bald als Hauptgewinn heraus. Der Kurort-Boom im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts brachte einen enormen Reichtum in die Region, und so mancher darbende Kleinbauer, der seine Felder zufällig im Umfeld der Bohrstelle bewirtschaftete, wurde – ganz ohne eigenes Zutun – dank der ins Astronomische kletternden Grundstückspreise zum Multimillionär.
Da gab es den trinkfesten Gastwirt und Betreiber eines örtlichen Cafés, dessen nach übermäßigem Alkoholgenuss zunehmend aufbrausende Art mir eine Warnung war, es mit dem Drogenkonsum nicht zu übertreiben;
Gut erinnere ich mich noch an unseren Trainer und Jugendleiter, der mir damals als allwissend erschien und dessen eindringliche Ratschläge beim Seitenwechsel ich niemals zu hinterfragen gewagt hätte (heute weiß ich, dass es oft aus der Not geborene Pseudo-Tipps waren, weil er es selbst auch nicht viel besser wusste);
Es gab zwei Ärzte in unserem Team – der eine ein eher verdruckster, unscheinbarer Mann mit schütterem Haupthaar, dessen aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende Gattin so gar nicht zu ihm zu passen schien. Seiner Ehefrau eilte nämlich der Ruf voraus, eine heißblütige und leichtlebige Dame zu sein, und hin und wieder wurde augenzwinkernd gemunkelt, ob denn das auf die Dauer gut gehen könne mit den beiden.
Nun – so weit ich weiß, ging es gut. Bei der einzigen Gelegenheit, zu der ich ihr persönlich begegnete, stellte sie ihr südländisches Temperament auf frappierende Weise unter Beweis: nämlich, als sie bei der Feier des 40. Geburtstags ihres Mannes zu slawischer Tanzmusik urplötzlich auf den Tisch stieg und dort oben einen offenherzig-lasziven Tanz aufführte, der mich zwar mehr belustigte als dass er mich in besonderer Weise erregt hätte (immerhin hätte die Frau meine Mutter sein können!), der mir aber noch lange als Kuriosität der Erwachsenenwelt im Gedächtnis blieb.
Der zweite Arzt, ein Zugroaster aus Schleswig-Holstein, war das genaue Gegenteil seines Berufskollegen: hochgewachsen, eloquent, eine fast aristokratische Aura verströmend, dabei stets gut gelaunt, vielleicht ein wenig hyperaktiv; in jedem Fall blitzgescheit. Ich erinnere mich an eine peinliche Situation mit ihm. Als ich – der erfolgsverwöhnte, mit Pokalen, Medaillen und Urkunden gut versorgte Nachwuchsspieler – ihn, den arrivierten Kreisligisten, mit kindlicher Naivität fragte, wo er denn seine ganzen Siegestrophäen bei sich zu Hause aufbewahre, da stutzte der sonst so souveräne Arzt kurz, bevor er trocken antwortete: Ich habe noch nie einen Pokal gewonnen. Ups! Aber gut, er hatte andere Qualitäten, und setzte – durchaus zu Recht – andere Prioritäten. So blieb mir die folgende Begebenheit mit ihm im Gedächtnis: einmal, während der Rückfahrt von einem Auswärtsspiel, hielt er unvermittelt am Straßenrand an und sprang aus dem Auto, um Blumen von einer Wiese zu pflücken. Auf unsere fragenden Blicke hin meinte er, der Blumenstrauß sei für seine Frau; er bringe ihr regelmäßig Blumen mit nach Hause; nein, sie habe nicht Geburtstag – einfach so. Ich war durchaus beeindruckt von diesem Liebesbeweis, merkte es mir, muss jedoch rückblickend mit einiger Beschämung zugeben, seinem guten Beispiel nicht immer konsequent genug gefolgt zu sein.
In lebhafter, wenngleich nicht nur in positiver, Erinnerung blieb mir unser ältestes Abteilungsmitglied – ein bärtiger, untersetzter Mann, vielleicht Anfang 60, von Beruf Masseur, mit deutlich eingeschränkter Beweglichkeit im Bereich des oberen Rückens, vermutlich Morbus Bechterew. Er war mir von Anfang an suspekt, ich konnte ihn überhaupt nicht einschätzen. Seine Anwesenheit im Training war bereits beim ersten Betreten der Umkleidekabine zu riechen, denn der stechend-scharfe Menthol-Geruch seiner Spezial-Wärmesalbe, die er sich vor jedem Training auf seine mit Krampfadern überzogenen Unterschenkel schmierte, stieg einem sofort beißend in die Nase. Diese Salbe sei die Stärkste, die es gibt, pflegte er jedesmal zu sagen; man dürfe nicht zu viel auftragen, denn sonst bekomme man höllische Schmerzen. Nichts für uns Kinder sei das – hoho. Seine Witze, die er regelmäßig zum Besten gab, waren zwar an uns Jugendliche gerichtet, aber ganz offenbar nicht für Kinderohren geeignet, und ich verstand sie in der Regel auch nicht. Erst nach und nach wurde mir ihre zweideutige Natur klar. Mit dem Abstand von einigen Jahrzehnten weiß ich heute, dass er ein recht unangenehmer, ja regelrecht schmieriger, Zeitgenosse gewesen sein muss, der es in so mancher Hinsicht bunt getrieben hat. Wenn ich es richtig sehe, war seine Frau nicht zu beneiden.
Als wir einmal spät von einem Auswärtsspiel heimfuhren und der Masseur am Steuer saß, bemerkten wir, dass er die Angewohnheit hatte, nie vom Fern- auf das Abblendlicht umzuschalten, so dass entgegen kommende Fahrzeuge stets geblendet wurden. Irgendwann machten wir ihn darauf aufmerksam. Seine lapidare Antwort war von bestechender Logik: Solange der andere nicht aufblendet, stört es ihn ja anscheinend nicht.-
Der beste Spieler in unserer Abteilung darf auch nicht unerwähnt bleiben. Er war im ganzen Kreis bekannt und beliebt; man könnte auch sagen, er war eine kleine Berühmtheit – im wahrsten Sinne des Wortes. Er war ein Mann von Ende 20, und er hatte nicht nur einen sensationell guten Vorhand-Topspin, sondern war auch in der Lage, die Bälle so gut auf dem Tisch zu verteilen, dass er damals auf Kreisebene nur schwer zu schlagen war. Hinzu kam eine weitere Besonderheit: er war kleinwüchsig, aufgrund einer angeborenen Wachstumsstörung war er gerade groß genug, um auf den Tisch schauen zu können. Ich erwähne diese Tatsache auch deshalb, weil ich dadurch, dass ich ihn damals zu meinen erwachsenen Freunden zählen durfte, einiges über das Leben gelernt habe: welchen Vorurteilen Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind, wie Äußerlichkeiten einen Menschen einerseits prägen, wie er sich aber dennoch – wenn man ihn lässt – seinen Platz im Leben erkämpft; all das habe ich durch meine Freundschaft mit ihm gelernt. Irgendwann nahm ich seine Kleinwüchsigkeit überhaupt nicht mehr wahr. Sie verschwand einfach hinter seiner Persönlichkeit.
Unsere Nummer 1 musste leider schon wenige Jahre später aus gesundheitlichen Gründen mit dem Tischtennis aufhören, denn die Belastung für Knochen und Gelenke war auf Dauer wohl doch zu viel, und er wurde nach jedem Spiel von immer heftiger werdenden Hüftschmerzen geplagt. Wir bedauerten seinen Abgang sehr, jedoch wäre es unvernünftig von ihm gewesen, die Warnzeichen seines Körpers noch länger zu ignorieren.
Last but not least möchte ich noch eine weitere prägende Person in meine persönliche Hall of Fame aufnehmen: unseren Abteilungsleiter, ein beeindruckender und wortstarker Mann, Verwaltungsleiter einer ansässigen Reha-Klinik. Eigentlich also jemand, den ich außerhalb des Sports kaum kennengelernt, geschweige denn anzusprechen gewagt hätte. Er hatte zu vielen Dingen eine klare Haltung, und wenn er es für nötig hielt, konnte er durchaus autoritär auftreten, jedoch auf eine Weise, die mir keine Angst machte, sondern ein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Er nahm mich im Sportverein unter seine Fittiche, hörte mir zu und behandelte mich mit Respekt. Gut möglich, dass er der Ansicht war, dass ich mich unter Wert verkaufte, dass eigentlich mehr in mir steckte, als es auf den ersten Blick schien. Wir spielten häufig miteinander Tischtennis (ich bald besser als er), anschließend ging er noch gemeinsam mit unserer Trainingsgruppe ins Wirtshaus, und es wurde bei Spezi, später auch bei einer Radler-Halben, gefachsimpelt.
Unser Abteilungsleiter öffnete Perspektiven für mich – theoretisch wie praktisch. Meinen Zivildienst absolvierte ich in der von ihm geleiteten Klinik, zu einer Zeit, als wir uns schon seit mehreren Jahren aus dem Sportverein kannten.
Dass ich den Chef privat kannte, empfand ich als Privileg und Belastung zugleich. Als Sportskameraden duzten wir uns selbstverständlich. Doch in seiner Klinik trat er als Respektsperson auf, die mit den meisten Mitarbeitern inklusive der Ärzteschaft per Sie war. Ich als kleiner Zivi war kurioserweise einer von Wenigen in der Belegschaft, die das vertraute Du pflegen durften. Das latente Gefühl der Anmaßung, das in meiner subjektiven Wahrnehmung diesem Umstand innewohnte, verunsicherte mich so, dass ich es stets vermied, den Chef direkt anzusprechen, jedenfalls immer dann, wenn Außenstehende im Raum waren, die die Hintergründe nicht kannten.
In der Retrospektive denke ich, dass ich diesem beeindruckenden Mann, der mittlerweile leider verstorben ist, vieles zu verdanken habe. Er brachte ein gewisses weltmännisches Flair, das mir bis dato unbekannt gewesen war, in unsere kleine niederbayerische Landgemeinde. So wie er – so wollte ich insgeheim auch einmal sein.
Es kommt, wie es kommen muss:
Der junge Offensivspieler gewinnt mit furiosem Spiel und knallharten Angriffsschlägen die Sätze 2 und 3. Der Alte winkt kopfschüttelnd ab, angesichts der Unerreichbarkeit der Bälle, die rechts und links an ihm vorbeizischen.
Totale Enttäuschung. »Jetzt verliere ich schon gegen SO EINEN!« Die Betreuer mahnen zur Mäßigung. Man gibt sich die Hand.
Beim Stand von 7:3 im vierten Satz – im Nachhinein wird man sich einig sein, dass exakt in diesem Moment das Spiel gekippt ist – macht der Junge einen leichten Fehler, unnötig, vielleicht in einem Anflug von Überheblichkeit. 7:4 – noch nichts passiert, weiter geht’s. Doch dieser Fehler muss dem 18jährigen einen psychischen Knacks versetzt haben. Plötzlich wird er unsicher, schlägt mal zu hart, mal trifft er den Ball zu spät. Die Fehlerquote steigt, und der Alte wittert Morgenluft. 8:11 im Vierten.
Im 5. Satz wogt das Spiel hin und her, bis zum Stand von 9:9 läuft alles ausgeglichen. Dann hat der Alte Aufschlag. Den ersten spielt er lang und schnell, doch nicht wie sonst auf die Rückhand des Jungen, sondern auf dessen starke Vorhand – das erste Mal im ganzen Spiel. Der Junge ist überrascht ob der unerwarteten Gelegenheit, kommt aber zu spät und schlägt den Ball etwas zu hoch und ohne Druck übers Netz. Sein Gegner nimmt den Ball früh und platziert ihn hart und unerreichbar in die freie Ecke. 10:9. Matchball!
Nun ein Schupfaufschlag des Alten, mit der Noppe direkt auf den Ellbogen der Schlaghand gespielt, begleitet von einer Bewegung des Unterarms, die starken Unterschnitt signalisiert – oder besser: diesen vortäuscht.
Der 18jährige fällt darauf herein. Er hebt den Ball an; dieser wird lang – zu lang – und landet weit hinter dem Tisch. 11:9 für den Strategen.
Der Generationenwechsel ist noch einmal vertagt. Alle ahnen, wohl zum letzten Mal.
Doch der finale Punkt des Spiels ist nicht entscheidend. Sondern das, was der Junge an diesem Tag gelernt hat: eine Lektion über Sieg und Niederlage, über Respekt, Selbstkontrolle und Fairness. Kontaktaufnahme mit der älteren Generation inklusive. Ein Schritt auf seinem Weg zum Erwachsenwerden.