Meinungsfreiheit
Arglose Nutzer von YouTube & Co begegnen in diesen trüben Herbsttagen auf ungefähr jeder fünften Kachel dem mittlerweile etwas gräulich umrahmten Antlitz des Buchautoren Richard David Precht. Staunend beobachtet man, mit welcher Ausdauer und Effizienz dieser rhetorisch begabte Berufs-Weise die Klaviatur der modernen Öffentlichkeitsarbeit bespielt: Ob in seinem gemeinsamen Podcast mit Markus Lanz, bei Jung und Naiv, im Hotel Matze oder bei Maischberger – überall wird man darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Lieblingsphilosoph der Deutschen ein neues Werk auf den Markt der Eitelkeiten gebracht hat: In seinem Buch Angststillstand beschreibt Precht den beklagenswerten Zustand, in dem sich eine der Grundfreiheiten liberaler Demokratien westlicher Prägung, nämlich die Meinungsfreiheit, seinem Urteil nach befinde.
Angesichts der Omnipräsenz dieser Thematik in den medialen Räumen mag man fragen, ob es sich lohnt, dem noch eigene Gedanken hinzuzufügen. Ich möchte diese Frage bejahen. Denn mich beschleicht das Gefühl, dass beim Diskurs rund um das Thema Meinungsfreiheit allzu oft am eigentlichen Schmerzpunkt vorbeigeredet wird. Das Prisma ist eigentümlich verstellt, und Argumente, die größere Beachtung verdienten, bleiben unterbelichtet, verborgen im Halbschatten der Debatte.
Um es auf den Punkt zu bringen: Die Meinungsfreiheit ist in Deutschland nicht bedroht. Noch nie in der Geschichte gab es so viel Meinung wie heute – geäußert mit maximaler Radikalität und Reichweite. Jede noch so deviante Beschreibung der subjektiv empfundenen Wirklichkeit, die in früheren Zeiten wohl am sonntäglichen Stammtisch des örtlichen Wirtshauses nach einem versöhnlichen „schwoamma’s owe“ rückstandslos versickert wäre, wird heutzutage in die Öffentlichkeit gespült und mit Hilfe undurchsichtiger Algorithmen als übelriechende Kloake kaskadenhaft verstärkt.
Die Behauptung, die Meinungsfreiheit sei in Gefahr, wird auch nicht durch die Beobachtung richtig, dass heutzutage auf jede pointiert vorgetragene Meinung beinahe reflexhaft heftiger Widerspruch folgt. Denn auch der Widerspruch ist ja eine Meinung, die geäußert werden darf; und solange die Grenze zur Beleidigung im Sinne des StGB nicht überschritten wird, ist Widerspruch, sind Anfeindungen oder abfällige Bemerkungen, hinzunehmen. In der Regel beruhen die verbalen Auseinandersetzungen in den Niederungen der Online-Welt ohnehin auf Gegenseitigkeit: Wer sich heute als bedauernswertes Opfer vermeintlich entzogener Meinungsfreiheit geriert, wechselt oft schon wenige Tweets später auf die Seite der Empörten, die dem politischen Gegner am liebsten das Mikrofon aus der Hand schlagen würden.
Es ist generell wenig Substanz und viel Performanz im Spiel; die hehre Sorge um das ideelle Gut der freien Rede entpuppt sich bei genauerem Hinsehen meist als Pose. Man macht sich selbst und anderen etwas vor, und will in Wahrheit doch nur die Lufthoheit über dem eigenen Lieblings-Topos verteidigen. Trauriger Höhepunkt der Scharade: die unsägliche, von heuchlerischer Larmoyanz triefende Rede von JD Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2025.
They do not care about exercising free speech without being censored. They care about spreading free lies without being challenged.
Die eigentliche Gefahr für unsere liberale Demokratie geht nicht von unliebsamen Meinungen aus. Irrige Annahmen, falsche Vorstellungen über Menschen, Dinge, Staaten, oder über zukünftige Entwicklungen – und seien sie auch noch so abstrus und wissenschaftlich längst widerlegt – hält unsere Gesellschaft aus. Unsere Institutionen sind resilient. Deutschland verfügt über eine vielfältige Medienlandschaft (gemeint sind hier vor allem die großen Zeitungsverlage, sowie der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk), die trotz mancher Schwächen sehr gut dazu in der Lage ist, Informationen aufzunehmen, nach ihrer Redlichkeit zu bewerten, seriös zu prozessieren und in mehr oder weniger ausgewogenen journalistischen Formaten auszuspielen. Die Elemente unserer Staatlichkeit sind gewaltenteilig organisiert und zur Selbstkorrektur fähig. Und nicht zuletzt ist es unserer leistungsfähigen Forschungslandschaft mit grundgesetzlich verbriefter Wissenschaftsfreiheit sowie einem vielfältig aufgespannten akademischen Unterbau zu verdanken, dass Meinungen, die einer objektiven Überprüfung nicht standhalten, sich kaum dauerhaft manifestieren können.
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Gefährlich wird es aber dann, wenn Einzelpersonen, politische Gruppierungen oder ganze Medienhäuser die Meinungsfreiheit als trojanisches Pferd nutzen, um unter ihrem Deckmantel bewusst und systematisch falsche Fakten zu verbreiten.
Als vielleicht prägnantestes Beispiel für diese Entwicklung im deutschen Sprachraum sei NIUS genannt, ein rechtspopulistisches Online-Portal mit Julian Reichelt als Frontmann und Chefredakteur – dem Mann also, der 2021 bei der BILD in Ungnade gefallen war, weil er sich gegenüber weiblichen Untergebenen ungebührlich verhalten haben soll. Reichelts Hetz-Portal wird maßgeblich finanziert vom Milliardär Frank Gotthardt, einem ebenso einflussreichen wie dubiosen Geschäftsmann, der offensichtlich ein größeres Interesse an gesellschaftlicher Disruption hat als an einer Verteidigung des Pressekodex.
Es ist wichtig zu begreifen, dass das Revier derartiger Krawallportale nicht mit den Maßstäben der Meinungsfreiheit vermessen werden kann. Wir betreten hier vielmehr den Raum der offenen Lüge. Eine Lüge ist nämlich keine Meinung, sondern so ziemlich das genaue Gegenteil davon. Sie ist (nach einer Definition in The Stanford Encyclopedia of Philosophy) eine „Aussage, von der der Sender (Lügner) weiß oder vermutet, dass sie unwahr ist, sie aber mit der Absicht äußert, dass der Empfänger sie glaubt“. Die Lüge, also die bewusst lancierte Desinformation, ist von einer unbewussten oder unbeabsichtigten Falschbehauptung, dem Irrtum, kategorial zu unterscheiden.
Plädoyer für die Meinungsfreiheit
Ich bin für absolute Meinungsfreiheit und werde diese stets verteidigen. Die englische Schriftstellerin Evelyn Beatrice Hall (nicht Voltaire, wie oft kolportiert wird) formulierte es 1906 so: „Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen“. Ein Irrtum ist jederzeit verzeihlich, und das Recht, selbst abwegige Meinungen zu vertreten, ist unbedingt zu verteidigen. Errare humanum est – wer (außer vielleicht Richard David) könnte schon von sich behaupten, sich noch nie geirrt zu haben?
Plädoyer gegen die öffentliche Lüge
Doch verdient auch die reine Lüge – beispielsweise geäußert in einem Diskussionsformat bei X, Facebook oder YouTube – diesen Schutz? Nein, natürlich nicht. Denn wenn ein professioneller Lügner sich auf seine vermeintliche Meinungsfreiheit berufen darf, und er jeden, der den Versuch unternimmt, die öffentlich geäußerte Lüge zu verbieten oder sie auch nur in ihrer Reichweite einzuschränken, als bösen Zensor verunglimpfen kann, dann degeneriert unsere Demokratie zur Phonokratie: der Herrschaft der Lautesten.
Eine Gesellschaft, die der bewussten Desinformation keine Grenzen setzt, wird instabil, wird fragil wie ein von Osteoporose befallenes Knochengerüst. Die fortgesetzte öffentliche Lüge demineralisiert Gesellschaften. Fake News sind eben keine Alternativen Fakten (das Unwort des Jahres 2017, geprägt von Donald Trumps einstiger Beraterin Kellyanne Conway), sondern schlicht und einfach Falschmeldungen. Sie müssen auch so benannt werden dürfen und sie sind nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt.
Bei der Bekämpfung von Desinformation kommt den digitalen Medien eine zentrale Rolle zu. Lässt man Diskussionsforen und soziale Plattformen zu lange unbeaufsichtigt, so verwandeln sie sich unweigerlich in Fabriken des Hasses. Sie müssen aber Bollwerke gegen die öffentliche Lüge sein. Aktive Forums-Moderation ist unverzichtbar. Community Notes gehören ebenso zum essenziellen Arsenal gegen gesteuerte Desinformationskampagnen wie die Einbindung von Trusted Flaggers. Auch disziplinierende Maßnahmen wie die Einführung eines Klarnamengebots oder eine intelligent ausgestaltete, DSGVO-kompatible Pflicht zur Identifizierbarkeit der User dürfen angesichts der destruktiven Kraft dieser Medien keine Tabus sein. Der Digital Services Act (DSA) der Europäischen Union geht zweifellos in die richtige Richtung, krankt jedoch leider daran, dass die großen Plattformen wie X und Meta (und bald auch TicToc?) allesamt US-Amerikanische Unternehmen sind, die das Backing der dortigen Regierung genießen. Donald Trump hat bereits mehrfach klargestellt, dass man jede Beschränkung, die den digitalen Medien seines Landes auferlegt würden, als direkten Angriff auf die Redefreiheit betrachte. Strafzölle, Exportstopps oder gar der Rückzug der USA aus der NATO stehen als Drohung im Raum, sollten europäische Digitalregeln wie der DSA für US-amerikanische Social-Media-Plattformen angewandt werden.
How many billions of dollars do you need to grow a spine?
(Sam Harris)
Die reichweitenstärksten Social-Media-Kanäle hätten es in der Hand, ihre Debattenräume durch die Implementierung einiger gezielter Maßnahmen zu menschenfreundlichen Marktplätzen der Meinungen zu machen. Doch die Tech-Elite hat sich dagegen entschieden. Zu profitabel scheint das Rage-Bait getriebene Geschäftsmodell, als dass man darauf verzichten könnte; zu stark zahlt die Spaltung unserer Gesellschaften auf die Machtausweitung der Rechtspopulisten und Oligarchen ein; zu schnell haben sich die Plattformbetreiber in vorauseilendem Gehorsam der dunklen Seite der Macht verschrieben. Und vielleicht war die Erwartung, dass Multi-Milliardäre lieber auf die 43. Milliarde verzichten würden als ihre Seele an einen windigen Immobilienmagnaten zu verkaufen, von Anfang an unrealistisch.
Einzig der Philanthrop Bill Gates zappelt bis auf Weiteres noch widerständig in dem Netz, das die MAGA-Ideologen über der westlichen Werte-Welt ausgeworfen haben. Der Microsoft-Gründer lässt sich ab und zu noch dabei ertappen, wie er von so altmodischen Konzepten wie Humanismus, Empathie und globaler Verantwortung spricht.
Wie lange er wohl noch durchhalten wird?
Man wird sehen.-