Ereignishorizont

Ereignishorizont

Ein Fiebertraum

Die ganze Welt scheint von einem unheimlichen Sog erfasst zu sein. Alle Kontinente sind betroffen, sie umkreisen, an ihren Bruchkanten in Völker und Nationen zerfallend, das unsichtbare Zentrum ihrer Nemesis in konzentrischen Bahnen abnehmender Radien, spiralförmig, taumelnd, erratisch fluktuierend zwischen Todessehnsucht und Disruptionsphantasien; ein irrsinniger Ritt apokalyptischer Reiter ins Nichts hinein. Vertraute Silhouetten werden erkennbar: hier Argentinien, dort drüben die Slovakei; Serbien, Ungarn, die USA wirbeln vorbei. Was nähert sich von da oben? Ist das Georgien? Die Umrisse verwischen, verformt durch mächtige Gravitationskräfte. Sie nehmen immer neue Formen an, mal langgezogen, mal kugelrund, dann wieder ausgefranst und zerschlissen. Schließlich, kurz vor Erreichen der inneren Zone, verwandeln sie sich ein letztes Mal: sie werden Eins mit ihrem ursprünglichen Selbst, ihrer eigentlichen Natur. Sie nehmen eine vertraute Form an: die einer menschlichen Gestalt.
Der Wähler sitzt auf seinem Stuhl und macht sein Kreuz.
Die Zeit steht plötzlich still. Absolute Ruhe. Ein Gefühl von Erhabenheit stellt sich ein. Die surreale, zugleich banale Assoziation: der Flügelschlag des Schmetterlings – kann er Stürme nicht nur auslösen, sondern diese auch verhindern?
Doch zu spät: der Ereignishorizont ist überschritten. Kein Zurück mehr. Alle Formen zerfließen zu einem blinden Nichts. Der Augenblick des größten Triumphs fällt zusammen mit dem Moment der eigenen Auslöschung.

Ich wache auf.


Eine Armada von Politikwissenschaftlern und Journalisten versucht seit Jahren zu ergründen, was die Ursachen für den Aufstieg autoritärer bis rechtsradikaler Kräfte in den westlichen Demokratien sind. Je nach politischer Färbung des Analysierenden fallen die Antworten recht unterschiedlich, wenn auch meist entlang ausgetretener Pfade, aus:

Beobachter aus dem eher konservativen Spektrum pflegen zu beklagen, dass die veröffentlichte Meinung sich zu weit vom Puls des Volkes entfernt habe. Die vermeintliche Verengung des Meinungskorridors in Kombination mit der Ausklammerung wunder Punkte – zuvorderst wird hier meist die ungelöste Migrationskrise genannt – führe zu Frust, Enttäuschung und einem Verlust an Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Regierenden. Es sei daher folgerichtig und nachvollziehbar, dass sich die enttäuschte Wutbürgerschaft von den wahlweise als Alt-, System- oder Kartellparteien verunglimpften etablierten politischen Kräften abwende und sich radikalisiere.

Das linksliberale Lager versucht dieser Interpretation typischerweise die Lesart entgegenzusetzen, nach der eine zu starke Fokussierung auf emotional aufladbare heiße Eisen wie die Flüchtlingsthematik zwangsläufig – quasi mechanisch angetrieben von einem geheimnisvollen Uhrwerk im Maschinenraum der Wähler-Seele – dazu führen müsse, dass in letzter Konsequenz nicht die Kopie, sondern gleich das Original, will heißen: die AfD, gewählt werde.

It’s the Voter, stupid !

In all diesen klugen Analysen mag ein Funken Wahrheit liegen. Doch ein Phänomen ist augenfällig: die Verantwortung der Wählenden kommt systematisch zu kurz, oder wird gar gänzlich negiert. Unabhängig von der politischen Orientierung stellen die meisten Beobachter ihren Analysen das folgende Axiom voran: »Die Wähler haben immer Recht«; oder auch das oft gehörte: »Wir betreiben keine Wählerbeschimpfung«.

Selbst in den seltenen Fällen, in denen der verschämte Hinweis Erwähnung findet, dass ein niedriger Bildungsgrad, mangelhaftes Wissen über die Grundlagen unserer konstitutionellen Demokratie oder das Desinteresse an politischen Entscheidungsprozessen die Wahl rechter Parteien statistisch begünstige, scheut man sich, den folgerichtigen, zweiten Schritt zu gehen: nämlich selbstbewusst darauf hinzuweisen, dass Bildung in unseren westlichen Demokratien nicht ausschließlich eine staatliche Leistung ist, die man dem bräsig im Ohrensessel sitzenden, geneigten Bürger einflößt (gleichsam wie im Schlaraffenland, in dem die gebratenen Hähnchen in die geöffneten Münder der Bewohner fliegen); sondern dass es auf Seiten der Wählerschaft – hört, hört! – so etwas wie eine Holschuld gibt.

Ich schreibe hier etwas auf, wozu die meisten Politiker nicht den Mut haben: ich hinterfrage die intellektuelle Lauterkeit einer vorauseilenden Exkulpation der Wählerschaft.

Würde man bei einem Autounfall auch so vorgehen? Die Beamten betreten die Szenerie, sperren die Unfallstelle ab; doch noch bevor die eigentliche Arbeit beginnt, wird ein rhetorischer Pflock eingeschlagen: »Der Fahrer wird als Schuldiger ausgeschlossen.«
Nein, man würde (hoffentlich) ergebnisoffen ermitteln.

Und so stelle ich die folgenden Thesen auf:

  1. Von jedem Erwachsenen, der das deutsche Bildungssystem durchlaufen hat, kann erwartet werden zu verstehen, dass die Freiheitsrechte in unserem Land ohne den Freiheitswillen der Bürger keinen Bestand haben werden.
  2. Jeder, der für sich in Anspruch nimmt, ein mündiger Bürger zu sein, muss diese Mündigkeit unter Beweis stellen, indem er sich über die Bedeutung der Grundpfeiler unserer freiheitlichen Demokratie informiert; mindestens aber, indem er es unterlässt, entsprechende Informationen, die überall und jederzeit abrufbar sind, absichtsvoll zu ignorieren, oder gar die Quellen, die solche Informationen bereit stellen, verächtlich zu machen oder ganz abschaffen zu wollen.
  3. Die essenzielle Bedeutung von Gewaltenteilung ist nicht schwer zu verstehen. Ebenso ist das Ziel des Staates, der Würde jedes einzelnen Menschen Geltung zu verschaffen, nicht verhandelbar. Menschen, die in einer Demokratie Parteien wählen, welche diese Grundsätze in grober Weise missachten, begehen einen Kardinalfehler. Eine solche bewusst getroffene Entscheidung ist ein unmissverständliches Statement gegen unsere verfassungsmäßige Ordnung und muss auch als solches benannt werden. Sie ist nicht damit zu entschuldigen, dass man sie als reine Protestwahl verbrämt. Was soll das überhaupt sein, eine Protestwahl? Sprechen wir über Kleinkinder in der Trotzphase? Eine Wahl ist eine Wahl ist eine Wahl.

Die drei genannten Punkte nehmen die Menschen und ihre Entscheidungen Ernst. Sie führen uns denklogisch hin zum Befund, dass jedes (demokratische) Land die Regierung hat, die es verdient. Ein harter Satz, sicherlich. Für manche vielleicht zu kategorisch, zu unversöhnlich. Und doch in letzter Konsequenz eine Wahrheit, die einmal ausgesprochen werden muss.
Der schlimmste Autokrat aller Zeiten, der reichste Mensch der Welt, der größte Zyniker des Planeten – sie können, jeder für sich oder alle gemeinsam, keinerlei Macht über uns erlangen, wenn wir – die Wähler – ihr böses Spiel durchschauen und ihnen die Gefolgschaft verweigern.

Die Zwangsläufigkeit in Richtung eines autokratischen Systems ist eine Chimäre. Der unheimliche Sog aus meinem Traum ist in Wahrheit nur ein laues Lüftchen. Zwischen Freiheit und Unterdrückung steht der mündige Bürger. Schließt er einen Pakt zwischen Herz und Verstand, dann laufen Hass und Hetze, Fake News und Tatsachenverdrehungen ins Leere.

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