Gedanken zur Migration

Gedanken zur Migration

Das Politikfeld Migration dominierte weite Teile der Debattenlandschaft im Bundestagswahlkampf. Und es ist ohne Zweifel ein wichtiges Thema, welches viele Menschen im Land bewegt. Die Zahl der Asylbewerber sinkt seit einigen Monaten, was dazu führte, dass sich die scheidende Innenministerin zuletzt selbstzufrieden auf die Schultern klopfte, weil sie diese Entwicklung als Beleg dafür interpretierte, dass die Maßnahmen, die ihr Haus auf den Weg gebracht hatte, offenbar ihre Wirkung entfalteten. Andere Beobachter sehen hauptsächlich externe Faktoren als ursächlich für die sinkenden Zahlen.

Wie dem auch sei: die aktuellen Entspannungssignale in die Zukunft zu extrapolieren wäre naiv, wäre unseriös. Kriege, Armut und die absehbar katastrophalen Folgen des Klimawandels werden dafür sorgen, dass die Frage der Steuerung von Migrationsströmen dauerhaft auf der Agenda deutscher und europäischer Politik bleiben wird.

Ich bin kein Migrationsexperte. Ich bin Bürger und interessierter Beobachter politischer Prozesse. Ich bin Konsument von Talkshows und Teilnehmer an Diskussionsforen in den digitalen Medien. Wenn ich hier einige Thesen und Ideen zur Diskussion stelle, die aus meiner Sicht Beachtung verdienen, dann bitte ich um das Wohlwollen der Leser. Denn dieses Thema ist ein Minenfeld. Argumente für die eine oder die andere Seite werden oft absichtsvoll missverstanden oder böswillig mit einem Etikett versehen: allzu schnell wird man der Menschenfeindlichkeit geziehen, oder als naiver Gutmensch verlacht. Ich weise deshalb ausdrücklich darauf hin, dass der Großteil der im Folgenden vorgetragenen Thesen weniger normativ als deskriptiv zu verstehen ist; im Bestreben, Ordnung in den allgemeinen Debattenlärm zu bringen, und zugleich, um mir selbst – sozusagen als Beifang – darüber Klarheit zu verschaffen, welche Positionen innerhalb des Meinungsspektrums mir am nächsten sind.

Genug der Vorrede – hier sind meine Thesen:



1. Irreguläre Migration: Stresstest für die Gesellschaft

Nach dem Sozialdemokraten Kurt Schumacher beginnt Politik stets mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Und es gilt, auf Basis der vorgefundenen Wirklichkeit nach wirksamen Lösungen zu suchen. Deshalb zunächst einige Fakten:

Weniger als 1% der Menschen, die in unser Land kommen, erhalten politisches Asyl nach Artikel 16a (1) des Grundgesetzes. Knapp die Hälfte erhalten Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention oder subsidiären Schutz. Ca. 55% der über die Asyl-Schiene einwandernden Personen sind Wirtschafts- oder Armuts-Flüchtlinge (2024); dieser Personenkreis hat keinen Schutzstatus, ist grundsätzlich ausreisepflichtig und wird temporär geduldet, sofern bestimmte Gründe eine freiwillige Ausreise oder die Abschiebung faktisch verhindern.

Tatsächlich bleiben fast alle Asylsuchenden dauerhaft in Deutschland. Viele dürfen nicht arbeiten und befinden sich monate- oder jahrelang in einer Art Zwischenwelt ohne Perspektive. Eine echte Integration in die Gesellschaft ist so kaum möglich – man darf mutmaßen, dass sie politisch auch nicht immer erwünscht ist.

Hinzu kommt, dass die überwiegende Zahl der Flüchtlinge junge, oft bildungsferne Männer sind, die den brutalen Fluchtweg aus dem nahen Osten, aus Afghanistan, oder aus Subsahara-Afrika überlebt und sich irgendwie bis nach Mitteleuropa durchgeschlagen haben. (Anmerkung: dies trifft nicht auf die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine zu, die insofern einen Sonderfall darstellen, der separat besprochen werden müsste). Die teils überlasteten Landkreise und Kommunen verfügen nicht über die finanziellen, räumlichen und personellen Ressourcen, die nötig wären, um diese Personengruppe für unseren Arbeitsmarkt fit zu machen.

Die defizitäre Betreuungs- und Ausbildungsstruktur bleibt nicht folgenlos: die ausbleibende Integration in die Arbeitsgesellschaft und die subjektiv empfundene Perspektivlosigkeit führen zu Frustrationen, zur Entfremdung von der aufnehmenden Gesellschaft, und in manchen Fällen leider auch zu Kriminalität. Letzteres betrifft vor allem Deliktgruppen, die typisch sind für Menschen mit schlechter Sozialperspektive, typisch insbesondere für junge Männer, deren Frustrationstoleranz aufgrund ihrer prekären Situation beständig auf die Probe gestellt wird: Drogenkonsum, Kleinkriminalität, Gewalt- und Sexualdelikte.

Das alles ist nicht gut. Es belastet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und öffnet Tür und Tor für rechtspopulistische Akteure, die nichts lieber tun als dystopische Szenarien von einem Land zu entwerfen, das angeblich kurz vor dem Kollaps steht.

Da hilft es wenig, wenn die Sozialwissenschaft darauf verweist, dass die vermeintlich erhöhte Kriminalitätsneigung von Menschen mit Migrationshintergrund kaum etwas mit deren Nationalität oder Ethnie zu tun hat, sondern weitgehend auf andere Parameter zurückzuführen ist: berücksichtigt man nämlich Einflussfaktoren wie Geschlecht, Alter, Bildungsgrad und sozialen Status, und rechnet diese Faktoren aus der Gleichung heraus (technisch würde man das etwa so ausdrücken: stratifiziert man die Kriminalitätsdatenbanken unter Berücksichtigung der genannten Confounders), dann bleibt nicht viel übrig vom angeblich so bösen Ausländer. Nach dem Häuten der Zwiebel findet man in ihrem innersten Kern – wenig überraschend – die soziale Frage.

Statistische Betrachtungen wie diese mögen Vertreter der links-liberal sozialisierten, akademisch gebildeten Mittelschicht überzeugen. Den Großteil der Bevölkerung erreichte man damit wohl kaum. Im Gegenteil: ziemlich sicher sähe man sich dem Vorwurf ausgesetzt, man sei elitär und versuche mit solchen Relativierungen nur von der unangenehmen Wahrheit abzulenken. Die Realität liege doch auf der Straße.

In der Tat zeigt die Lebenserfahrung: die Kombination aus anekdotischer Evidenz und dem viel beschworenen gesunden Menschenverstand schlägt jede Statistik.

Es nützt folglich nichts, die von der Bevölkerung empfundenen Belastungen durch ungeregelte Migration klein zu reden. Sie sind Teil der Wirklichkeit in unserem Land, sie haben politische Konsequenzen und sie müssen daher ernst genommen werden. Sie zu ignorieren – aus der vielleicht berechtigten Sorge heraus, die Vereinfacher von rechts außen könnten die Faktenlage zur Munitionierung der eigenen Stellungen nutzen – wäre fahrlässig.



2. EU – Union von Egoisten? oder: alles, was Recht ist

Kommentatoren, die den aktuellen Zustand der europäischen Asyl- und Migrationspolitik als vorbildlich loben, sind rar gesät. Allerorten wird geklagt über eine mangelhafte Abstimmung der Staaten untereinander; über die chronische Überlastung der Behörden angesichts eines nicht enden wollenden Zustroms von Migranten; nicht zuletzt zeigt man sich frustriert über die vielgestaltigen nationalen Egoismen, welche die politische Landschaft dominieren und eine effektive Migrationspolitik systematisch unterminieren.

Zusätzlich lähmen historisch gewachsene Paradoxien den Kontinent: Nimmt man Artikel 16a (2) des Grundgesetzes wörtlich (was bei Gesetzestexten, zumal wenn sie den Charakter einer Verfassung haben, empfehlenswert ist), dann kann an den deutschen Außengrenzen niemand sein Recht auf politisches Asyl einfordern, denn dort steht geschrieben:

Auf Absatz 1 [= Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.] kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. […] In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.

Würde Deutschland streng nach den Buchstaben des (nationalen) Rechts agieren, dann würde es in der Tat – so wie CSU-Innenminister Alexander Dobrindt dies zuletzt ostentativ ankündigte – alle Asylsuchenden an der Grenze zurückweisen können, mit der Aufforderung, den Asylantrag bitte im entsprechenden Nachbarstaat zu stellen. Auf europäischer Ebene ist hier die Dublin-II-Verordnung einschlägig, nach welcher derjenige EU-Mitgliedsstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sein soll, den der Antragsteller initial betreten hat. Dieser Staat wäre in den meisten Fällen einer der Mittelmeer-Anrainerstaaten, etwa Griechenland oder Italien.

Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Der nationalen Sichtweise steht das geltende EU-Vertragswerk entgegen, welches Zurückweisungen nur unter ganz bestimmten Kautelen ermöglicht: nach Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist es einem Mitgliedsstaat der EU erlaubt, die europäischen Regeln zu Asyl- und Migrationsfragen dann nicht anzuwenden, wenn die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit in dem Mitgliedsstaat andernfalls in Gefahr wären. In den Medien wird diese Ausnahmesituation gemeinhin mit dem Begriff nationale Notlage umschrieben.

Es ist, wie so häufig im komplexen Gebilde EU, eine vertrackte Gemengelage: Deutschland könnte sich auf Kosten der Süd-Länder einen schlanken Fuß machen, allerdings unter fahrlässiger Inkaufnahme des Risikos, gegenüber der EU vertragsbrüchig zu werden und damit letztlich eine Wiederholung des Maut-Desasters – Dobrindt Teil 2 – zu provozieren.

Deutsche Bundesregierungen waren in den vergangenen Jahrzehnten bis auf wenige Ausnahmen so verantwortungsvoll, auf derlei konfrontative Aktionen zu verzichten. Als wirtschaftlich stärkstes Land fühlte sich Deutschland in besonderem Maße der zwischenstaatlichen Solidarität verpflichtet; es gefiel sich in der Rolle des ehrlichen Maklers und setzte sich im Politikfeld Migration seit der Ära Merkel für europaweite Lösungen mit festem Verteilschlüssel ein.

Grundsätzlich ist diese Haltung begrüßenswert, und auch ein Kanzler Merz wird hoffentlich klug genug sein, hier keine 180°-Wende zu vollziehen, sondern bei allen wichtigen Weichenstellungen die Nachbarstaaten zu konsultieren und in Abstimmung mit ihnen nach einvernehmlichen Lösungen zu suchen.

Trotzdem: Wenn Rechtsnormen auf unterschiedlichen politischen Ebenen (EU, national) in einer so zentralen Frage wie der Migrationspolitik nicht passgenau ausgestaltet sind, sondern auseinander driften und Widersprüchlichkeiten offenbaren, dann untergräbt dies das Vertrauen in staatliche Institutionen. Konflikte sind vorprogrammiert.



3. Gesinnungsethik vs. Verantwortungsethik

Die Abwehr irregulärer Migration verursacht große humanitäre Kosten. Wenn Flüchtlingsboote mit Zustimmung der EU von der libyschen Küstenwache an der Überfahrt nach Italien gehindert werden, dann führt dies zu Leid, Traumatisierung und Tod. Brüssel weiß das genau, hat aber dennoch Abkommen mit nordafrikanischen Staaten geschlossen, mit eben diesem Zweck: die Migrationsströme von Regionen fernzuhalten, die der eigenen Jurisdiktion unterliegen.

Es wäre einfach, diese Strategie der EU als inhuman oder heuchlerisch anzuklagen und mit gesinnungsethisch motiviertem Furor eine Aufnahme aller Flüchtlinge zu fordern, die ihr Leben riskieren, um sich auf die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer zu begeben.

Doch es stehen auch andere Perspektiven im Raum, die sich aus der Verantwortungsethik ableiten lassen, sowie aus utilitaristischen Erwägungen, die konzeptionell auf den Philosophen Peter Singer zurückgeführt werden können. Hierbei wird die Sache vom Ende her gedacht, nach dem Motto: Quidquid agis, prudenter agas, et respice finem! (was immer du tust, handele weise, und bedenke das Ende!)

Legt man diese Maximen zugrunde, dann könnte es ethisch zulässig oder gar geboten sein, Menschen kurzfristig Hilfe zu versagen, um langfristig noch größeres Leid zu verhindern. Vereinfacht lautet die Theorie: je mehr Bootsflüchtlinge man aus ihrer Seenot rettet und nach Europa bringt, umso mehr Menschen würden zur Überfahrt ermutigt – dem tödlichen Geschäft der kriminellen Schlepperbanden stünde eine blühende Zukunft bevor.
Würde man die Seenotrettung dagegen einstellen, die Migranten also – brutal ausgedrückt – sehenden Auges ertrinken lassen, dann würde sich diese Nachricht rasch herumsprechen, und schon bald wäre keiner mehr bereit, einige tausend Euro zu bezahlen, um sich in einem billigen Schlauchboot auf ein Himmelfahrtskommando mit geringsten Erfolgsaussichten zu begeben.

Das sind denklogisch plausible, wenngleich moralisch heikle Überlegungen.

In der Ausgabe 29/2018 veröffentlichte die Wochenzeitung DIE ZEIT an prominenter Stelle ein Pro und Contra zur Frage der Seenotrettung. Titel: Oder soll man es lassen? Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim? Mariam Lau vertrat argumentativ die Contra-Seite.

Ein Sturm der Entrüstung brach los. Chefredakteur Giovanni di Lorenzo fühlte sich zu einer Entschuldigung in der nächsten Ausgabe genötigt, mit dem Titel Gut gemeint, aber nicht gut genug. Darin nahm er ausdrücklich Abstand von dem Unterfangen, gefährliche Denkräume wie diesen zu öffnen, und gelobte Besserung.

Offenbar war der Versuch einer journalistischen Annäherung an die Frage, ob sich auch Argumente dafür finden ließen, Menschen in Seenot nicht zu retten, ein nicht zu tolerierender Tabubruch.

Und in der Tat: dass wir uns gezwungen sehen, derart existenzielle und grausame Alternativen abzuwägen, rührt ans Innerste unseres Selbstverständnisses als aufgeklärte Europäer. Die Situation vor unseren Küsten ist schwer erträglich; jedoch werden wir uns auf Dauer einer Antwort nicht verweigern können.


4. Pull-Faktoren: reine Fiktion, oder der Elefant im Raum?

Immer wieder finden hitzige Diskussionen über die Frage statt, ob, und wenn ja, in welchem Maße, die globalen Migrationsströme durch sogenannte Pull-Faktoren gelenkt werden. Wählen also beispielsweise Kriegsflüchtlinge ihre Fluchtrichtung oder das Zielland danach aus, wie restriktiv oder wie großzügig der aufnehmende Staat Geld- oder Sachleistungen ausreicht, wie komfortabel oder wie spartanisch er Asylbewerber unterbringt, oder wie gut oder wie schlecht die gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen im Zielland sind?

Ich halte es für evident, dass es solche Pull-Faktoren gibt. Zwar ist es sicher richtig, dass niemand ohne Not sein Heimatland verlassen wird, um sich auf eine lebensgefährliche Reise um die halbe Welt zu begeben, nur weil Deutschland mit einem monatlichen Regelsatz laut Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von 441€ winkt. Aber es ist andererseits auch einigermaßen lebensfremd anzunehmen, dass die Entscheidung für dieses oder jenes Zielland nicht auch dadurch beeinflusst würde, wie gut und sicher es sich in diesem Land als Asylbewerber leben lässt. Ebenso macht es einen Unterschied, ob man auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren hoffen kann, oder ob im Zielland ein offen feindseliges Klima gegenüber Fremden herrscht.

Dies gesagt habend, möchte ich ausdrücklich nicht der Schaffung möglichst widriger Rahmenbedingungen das Wort reden, nach dem Motto: Wir müssen die Flüchtlinge nur schlecht genug behandeln, dann kommen sie schon nicht zu uns. Derartige Menschenfeindlichkeit ist das Geschäft der AfD. Mir geht es vielmehr darum, der Behauptung zu widersprechen, Pull-Faktoren seien reine Fiktion.

Was aber machen wir mit dieser Erkenntnis?

Ich meine, dass es beispielsweise durchaus angemessen ist, wenn vollziehbar Ausreisepflichtige (also Personen ohne Duldungsstatus, deren Asylantrag letztinstanzlich abgelehnt wurde) statt Geldleistungen nur noch Sachleistungen erhalten. Schließlich ist in einem rechtsstaatlichen Verfahren festgestellt worden, dass diesen Menschen im Heimatland weder Verfolgung noch eine Gefahr für Leib und Leben drohen. Eine freiwillige Ausreise ist also zumutbar. Es muss möglich sein, dieser Tatsache Rechnung zu tragen, indem man die Rahmenbedingungen bei Unterbringung und Verpflegung für diese Personengruppe entsprechend modifiziert, beispielsweise durch die Einführung einer Bezahlkarte. Wer eine solche Maßnahme grundsätzlich als inhuman verunglimpft, so wie dies große Teile der Partei „Die Linken“ tun (und leider auch eine Minderheit innerhalb des linken Spektrums von Bündnis 90/Die Grünen), verkennt aus meiner Sicht die Lage und unterminiert den Versuch, Migration auf verantwortungsvolle und mehrheitsfähige Weise zu steuern.



5. Wie robust darf die Durchsetzung von Recht sein?


Es gibt Momente, in denen man staunend vor dem Fernseher sitzt und sich fragt, ob man wohl richtig gehört hat. Etwa, wenn der Migrationsforscher Gerald Knaus in der Sendung Markus Lanz erläutert, dass die meisten Abschiebungen vollziehbar ausreisepflichtiger Menschen daran scheitern, dass sich die Heimatländer weigern, ihre eigenen Bürger zurückzunehmen.

Wie kann das sein? Staaten boykottieren trotz eindeutiger Rechtslage den ordnungsgemäßen Ablauf der Rückführung ihrer eigenen Staatsbürger, und kommen damit durch?

Nun: welcome to reality!

Man würde denken, ein einflussreiches Land wie Deutschland verfüge über wirksame politische Werkzeuge, um nicht kooperationswillige Staaten zum Einlenken zu bewegen.

Vereinzelt wird die Forderung laut, Deutschland solle die Daumenschrauben anziehen. Bestimmte Privilegien wie die Gewährung von Visa-Erleichterungen, oder die Bereitstellung finanzieller Mittel für Entwicklungshilfe-Programme, sollten daran geknüpft werden, ob die begünstigten Länder in puncto Asylrecht faire Partner sind.

Erpressung sei das, und zudem kontraproduktiv, hört man dann; denn wenn Entwicklungshilfe gestrichen werde, dann sei dies doch das genaue Gegenteil der Bekämpfung von Fluchtursachen, mit der Folge, dass sich umso mehr Menschen nach Norden aufmachten, um ihrer prekären Lebenslage zu entfliehen.

Dieses Argument klingt logisch, doch es überzeugt mich nicht. Denn schon die Prämisse ist meines Erachtens falsch gesetzt. Das Ziel dieser als Erpressung diffamierten Politik wäre doch gerade nicht das Scheitern der Verhandlungen. Sondern im Gegenteil: die Gespräche würden mit dem klaren Ziel einer Verständigung geführt: das anzustrebende Ergebnis müsste sein: JA, die Länder nehmen ihre Bürger selbstverständlich zurück und unterstützen deutsche Behörden in realiter bei der Beibringung von Dokumenten, die für die Identitätsfeststellung und die Einreise erforderlich sind. Und: JA, die Entwicklungshilfeprogramme und Visaprogramme werden selbstverständlich fortgeführt; sie werden sogar ausgeweitet, um die nachhaltige Entwicklung der Länder zu unterstützen.

Das reiche Deutschland sitzt oft am längeren Hebel, betätigt diesen aber nicht. Es agiert zu wenig robust, man könnte sagen: zu brav; vermutlich aus der Sorge heraus, die entschlossene Wahrnehmung eigener Interessen könnte an dunklere Perioden deutscher Geschichte erinnern.

Ich halte diese Einschätzung für gestrig. Die Angst vor deutschen Hegemonieansprüchen ist längst einer Forderung nach politischer Führung gewichen – auch und gerade in der Migrationspolitik. Deutschland als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich stärkstes Land in der EU muss mehr bieten als eine halbherzig-verschämte Symbolpolitik aus dem Anspruch heraus, es jedem recht machen zu wollen. Wir müssen lernen, uns selbst und unsere legitimen Interessen ernst zu nehmen. Nur dann wird uns auch die Welt ernst nehmen.



6. Verfassungsänderung – ein Tabu?

Ganz allgemein gilt: Recht, das dauerhaft nicht umgesetzt wird, verliert seine gesellschaftliche Akzeptanz und sollte geändert werden. Eine Steuer, deren Bezahlung sich der Großteil der Steuerpflichtigen regelmäßig entzieht, wird zur Willkür und verliert ihre Daseinsberechtigung. Die Wehrpflicht wurde einst ausgesetzt, als sie nominell zwar für alle Männer eines Geburtsjahrgangs galt, jedoch weniger als 20% der Kohorte tatsächlich eingezogen wurden.

Artikel 16a (1) sagt lapidar: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Doch weniger als 1% derjenigen, die in unser Land kommen, um dieses Recht für sich einzufordern, haben damit vor den Gerichten Erfolg. Die allermeisten Asylanträge werden als unbegründet abgelehnt. Das bedeutet zwar nicht, dass die anderen 99% keinen Schutzanspruch haben; aber dieser ergibt sich eben aus anderen Rechtsnormen, d. h. sie erhalten Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention, oder vorübergehenden subsidiären Schutz.

Aus der Vogelperspektive betrachtet ist Art. 16a nicht geeignet, das Problem, zu dessen Lösung es nach dem Ende des zweiten Weltkriegs ins Grundgesetz geschrieben wurde, adäquat zu adressieren.

In einem idealen Europa bräuchte es keine nationalen Asylgesetze. Asylverfahren würden supranational verhandelt, auf der Basis eines harmonisierten europäischen Asylrechts. Flüchtlinge würden fair, d. h. nach einem gemeinsam festzulegenden Schlüssel, über alle EU-Staaten verteilt, und die Leistungen für Kost und Logis wären europaweit standardisiert, allenfalls versehen mit einem mathematischen Faktor, der die unterschiedliche Kaufkraft im jeweiligen Land berücksichtigt.

Bis dahin ist noch ein weiter Weg; das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS), das bis Mitte 2026 umgesetzt sein muss, ist ein erster kleiner Schritt in die richtige Richtung. Viele weitere müssen folgen.

Kann Artikel 16a auf Dauer Bestand haben? Ich prognostiziere, dass das individuelle Asylrecht in der bisherigen Form mittelfristig zugunsten einer europaweiten Lösung abgeschafft werden wird. Die Frage ist nicht ob, sondern lediglich wann und von wem.



7. Sichere Herkunftsländer


Die Ausweisung sicherer Herkunftsländer (sowie die regelmäßige Überprüfung und Aktualisierung der entsprechenden Länderlisten nach objektiven Kriterien) ist ein sinnvolles, wenngleich nicht unproblematisches Element einer pragmatischen Migrationspolitik. Pragmatisch deshalb, weil jede Prozentangabe, unterhalb derer die Anerkennungsquote von Asylanträgen aus einem bestimmten Land X liegen muss, damit X als sicher im Sinne der Regelung gilt, willkürlich ist. Selbst wenn in einem Land nur eine einzige Person tatsächlich politisch verfolgt würde, und diese Person an der deutschen Grenze um politisches Asyl ansuchen würde, müsste ihr ein Verfassungspurist selbstverständlich Asyl gewähren. Denn das Grundgesetz ist eindeutig: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.

Das Beispiel zeigt: Pragmatismus schlägt bereits heute Einzelfallgerechtigkeit. Man mag dies ethisch falsch finden, doch wenn Politik auf Wirklichkeit trifft, behält nicht immer die moralischste Position die Oberhand.

Ist das etwas, auf das wir stolz sein sollten? Nein, sicher nicht. Fällt mir eine bessere Lösung ein? Nein.

So bleibt ein fader Beigeschmack.



8. Wenn Migration die Mutter aller politischen Probleme ist (Horst Seehofer, 2018), dann ist sie vielleicht auch die Mutter aller Lösungen.


Deutschland braucht Migration. Jährlich müssen ca. 400.000 Personen nach Deutschland einwandern, um die dramatische demografische Unwucht zu kompensieren, die der zweite Weltkrieg, das Wirtschaftswunder und der Pillenknick in der autochthonen Bevölkerung in Summe hinterlassen haben. Die Sozialwissenschaft ist sich darin einig, dass ohne Zuwanderung unsere sozialen Sicherungssysteme (Rente, Gesundheit und Pflege) auf Dauer kollabieren würden.

Klar ist aber auch, dass es darauf ankommt, wer ankommt. Gut ausgebildete Facharbeiter; junge bildungsbereite Familien; integrationswillige Arbeitsmigranten – sie alle werden gebraucht und sollten mit offenen Armen empfangen werden. Sie werden unser Land zukunftsfähig machen.


 

Schlussbemerkung:

Ich bin mir darüber im klaren, dass all das bisher Gesagte das Potenzial hat, ganz unterschiedlich rezipiert zu werden. Die einen mögen viel Nachdenkliches und Nachdenkens-Wertes darin finden, während andere es unverzeihlich finden werden, die Konditionierung von Entwicklungshilfe auch nur in Betracht zu ziehen, oder sich empören werden, weil der Bestand des Artikels 16 des Grundgesetzes nicht dogmatisch verteidigt, sondern unter bestimmten Bedingungen zur Disposition gestellt wird.

Gern stelle ich mich der Kritik – solange sie fair ist.

Und eines darf zum Schluss dieses Beitrags nicht unerwähnt bleiben: egal, wie man zur Migrationsdebatte steht; ob man einen radikal-universalistischen Ansatz vertritt, wonach jede Grenzen per se von Übel, und kein Mensch illegal sei; ob man der Überzeugung ist, Europa müsse zu einer mit Stacheldraht umzäunten Festung ausgebaut werden, so dass jedwede illegale Einreise verunmöglicht wird; oder ob man sich politisch irgendwo zwischen diesen beiden Extrempositionen verortet –

wir alle sind jeden Tag aufgefordert, dem Gegenüber im direkten Kontakt, also auf der individuellen Ebene von Mensch zu Mensch, zugewandt und freundlich – man könnte auch sagen: mit Anstand – zu begegnen und ihn als Individuum, nicht als anonymen Teil einer misstrauisch beäugten Gruppe, wahrzunehmen und mit Respekt zu behandeln.
Dies ist das Mindeste, was wir tun können – tun müssen. Als Akt der Nächstenliebe, aus einem humanistischen Impetus heraus, oder einfach nur aus Selbstachtung.

So jedenfalls verstehe ich den Sportjournalisten Marcel Reif, wenn er am 31.01.2024 in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag seinen jüdischen Vater mit einem Satz zitiert, den dieser ihm eindringlich mit auf den Weg gegeben hat, und der seither zur Maxime seines Lebens geworden ist:

Sei ein Mensch.